
Die Geschichte der beiden Geschwister Hänsel und Gretel, die auf Wunsch ihrer boshaften Stiefmutter im Wald ausgesetzt werden und dort auf das ungewöhnliche Haus einer noch boshafteren Hexe treffen, bekam nahzu jedes Kind im deutschsprachigen Raum einmal vorgelesen. Der genaue Ursprung des Märchen ist nicht bekannt. Wilhelm Grimm gab damals als Quelle für das fünfzehnte Kaptiel seiner Kinder- und Hausmärchensammlung „verschiedene Erzählungen aus Hessen“ an. Aber auch in anderen Regionen wurde von den beiden Geschwistern berichtet, wobei sich die Schilderungen teils signifikant voneinander unterschieden. In Schwaben bewohnte zum Beispiel ein böser Wolf das Zuckerkuchenhaus.
Die Geschichte wurde schon zuvor von Schriftstellern wie Heinrich Pröhle, Ludwig Bechstein, Karoline Stahl, August Stöber, Heinrich Stier festgehalten, aber auch nach den Grimms schrieben andere Literaten wie Ludwig Bechtstein ihre eigenen Interpretationen von “Hänsel und Gretel“, beziehungsweise “Hänsel und Grethel“ nieder. Die Autoren dichteten dabei oft neue Figuren und Handlungsstränge zur Geschichte dazu. So wurden die Kinder in der ersten Ausgabe der Hausmärchensammlung noch von ihrer leiblichen Mutter verstoßen, die die Brüder Grimm in später in eine Stiefmutter verwandelten. Auch die Ente, die das Geschwisterpaar über einen langen See zurück zum Vater trägt, stammt aus der Feder der Grimms. In Bechtsteins Version treffen die beiden nach der Ente noch einen weißen Vogel, den sie zuvor unfreiwillig mit ihren Brotkrumen gefüttert haben. Man sieht also, dass man sich schon je her kreative Freiheiten mit dem Stoff erlaubte. Eine Tradition, die natürlich auch von der Filmindustrie weitergeführt wurde.
Während sich viele TV-Produktionen sehr genau an den literarischen Vorlagen orientierten, verwandelte der 2013 erschienene Action-B Movie “Hänsel & Gretel: Hexenjäger“ das Geschwisterpaar in zwei professionelle Kopfgeldjäger und die 2012 erschienene Kiffer-Komödie “Hansel and Gretel: Black Forest“ die böse Hexe in eine Hash-Dealerin.
Schon der Titel der neusten Leinwad-Adaption lässt erraten, dass sich der Horrorfilm nicht allzu streng an das Grimm-Märchen hält. Als deren Trailer im vergangenen Jahr auf Youtube veröffentlicht wurde, machten sich einige Zuseher in der Kommentarsektion über “Gretel und Hänsel“ lustig, indem sie vorschlugen in Zukunft auch Filme wie “Jerry und Tom“ oder “Struppi und Tim“ zu drehen. Im Gegensatz zu “Hänsel und Gretel: Hexenjäger“ oder “- Dark Woods“ bleibt “Gretel und Hänsel“ seiner Vorlage aber vergleichsweise treu.
Die spätmittelalterlichen Kostüme und Sets sowie die altertümlichen Dialekte sorgen für ein authentisches mittelalterliches Setting. Der internationale Cast und die englischsprachigen Dialoge schaden dem Gesamtbild nicht allzusehr, da die Handlung laut Vorlage nicht per se in Deutschland, sondern nur in einem „großen Walde“ spielt. Aber auch die gröberen Veränderungen in der Geschichte, wie der – zugegebenermaßen recht vohersebare – Plottwist, wirken kongruent mit der Thematik des Originals. Viele dieser Veränderung sind auch dem Genre des Filmes zuzuschreiben, da beispielsweise ein Lebkuchenhaus einem Horrorfilm an Grusel nehmen könnte. Stattdessen wurde dem Heim der Hexe ein wunderbar unheimliches Design zu teil, das ein wenig and den Stummfilmklassiker “Das Kabinett des Dr. Caligari“ erinnert.
Inszeniert wurde “Gretel & Hänsel“ vom Sohn des Schauspielers Anthony Perkins, den man vor allem für seine Darstellung des fiktiven Serienmörders Norman Bates in Alfred Hitchcocks “Psycho“ kennen dürfte. Ozgoord Robert Perkins legte 2015 mit dem psychologischen Horror-Thriller “The Blackcoats Daughter“ (hierzulande: Die Tochter des Teufels) eines der besten Regiedebüts der vergangenen Jahre hin und konnte auch mit seinem zweiten Film, dem Hounted House- Thriller “I am the Pretty Thing that Lives in the House“ viele Fans des Genres überzeugen. Während sein Regiestil sich in den ersten beiden Filmen an den ruhigen Dialogen und Bildern von Stanley Kubricks “The Shining“ oder William Friedkins “Der Exorzist“ orientierte, erinnert die Inszenierung seines neusten Werkes stark an das Schaffen des italienischen Giallo-Regisseurs Dario Argento. Wer mit Luca Guadagninos Neuinterpretation von Argentos “Suspiria“ nicht warm werden konnte, bekommt mit “Gretel & Hänsel“ ein deutlich originalgetreueres Quasi-Remake des Hexen-Kultfilmes. Der exzessive Gebrauch von Neonlichtern erinnert stark an die Optik des 70er Jahre-Klassikers und der syntetische Score könnte glatt von Goblin (die Rockband hinter dem “Suspiria“-Soundtrack) komponiert worden sein. Jener Stil mag zwar für die Vorlage recht unpassend klingen, wurde in dem Film aber letzendlich sehr elegant angewendet.
Jungdarstellerin Sophia Lillis (ES) schafft es mit ihrem nuancierten Schauspiel die gewöhnlich recht plakativ in Szene gesetzte Rolle der Gretel neu zu beleuchten und die dramatischen Szenen des Filmes zu intensivieren. Hänsel-Darsteller Samuel Leakey wird mit seinem Schauspieldebüt die wenigsten Leute von Hocker reißen können, in Anbetracht seines jungen Alters ist seine Performance aber grund solide. Jessica De Gouw kann mit ihrer Verkörperung der „Jungen Hexe“ überzeugen, während Alice Krige, die als die Kinderfresserin in höherem Alter auftritt, die vielleicht unheimlichsten Blicke des Kinojahres abliefert.
Bei all dem Lob muss jedoch gesagt werden, dass Perkins‘ Horror-Thriller unter einem fatalen Problem leidet, das derzeit viele Hollywoodproduktionen plagt: Er ist schlichtweg zu kurz. Zwar ist der heutige Diskurs zum Thema Film gespickt mit Plattitüden à la „Die Geschichte hätte man in der halben Zeitspanne erzählen können“, jedoch zeigen Werke wie jenes, warum diese Philosphie nicht allzu dogmatisch verfolgt werden sollte. Der 88-minütige Streifen kommt zwar ohne Längen aus, jedoch opfert er durch diese minimalistische Herangehensweise viel Zeit, die er in Story, Charakterentwicklung und Worldbuilding investieren hätte können. Zwar hat er in all diesen Aspekten etwas zu bieten, man wird beim Einsetzen des Abspannes aber das Gefühl nicht los, etwas zu vermissen. Das Risiko, den Zuschauer zeitweise etwas zu langweilen, wäre in diesem Fall ein gerechtfertigtes gewesen, um dem Film einen etwas runderen Handlunsverlauf und in Folge dessen ein etwas weniger aufgezwungenes Ende zu bescheren.
Fazit
Wer sich vom Trailer oder nur vom Poster des Horror-Märchens angesprochen fühlt, sollte “Gretel & Hänsel“ definitiv einen Abend widmen. Dass den vielen Talenten vor- und hinter der Kamera eine nur so kurze Laufzeit zugestanden wurde, bleibt aber bedauerlich.
Meiner Meinung nach ist es ziemlich mutig ein so bekanntes und ofterzähltes Märchen als Grundlage zu nehmen. Da kann man schnell so einige enttäuschen. Ich mag den Horror-Aspekt und die Idee war da, aber es mangelt leider an der Umsetzung…
Hermine
Auch mich hat “Gretel & Hänsel“ vollauf überzeugt, eine wirklich gelungene und schön gruselige Neuinterpretation des Grimm-Märchens. Erwähnt sei auch noch einmal der Synthie-Score, der allein schon durch die dumpf dröhnenden Bässe Unheil zu verströmen mag.
Definitiv! Nach der Optik war der score das absolute Highlight des Filmes.